„Elfen, Aos Sí, Lichtalben, Ellyllon“, Arawan blickte sie an, „wir tragen viele Namen.“
Nachdem die 13jährige Meria Silvae ihre Mutter verliert, kommt sie bei Freunden auf dem Land unter. Neugier treibt sie und den gleichaltrigen Jael Ebony in den Wald, wo sie auf den Aos Sí Arawan treffen, der mehr über Merias Familie zu wissen scheint, als sie selbst.
Als dann auch noch ein fremder Magier Meria bedroht, verstrickt sie sich in ein Abenteuer voller Gefahr, Magie und Geheimnisse.

ISBN 978-3-86492-013-4
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Beerdigung
Neun Menschen standen um ein frisch geschaufeltes Grab und beobachteten, wie der hölzerne Sarg langsam in die Erde gelassen wurde. Die begleitenden Worte des Pfarrers drangen kaum zu Meria durch. Ihre Haut war blass, ihre Augen rot vom Weinen. Die dunkelblonden Haare hatte sie in einem Zopf gebändigt und das obwohl ihre Mutter immer gemeint hatte, Haar sollte frei fliegen, als Zeichen, dass ihre Trägerin ebenfalls frei sei.
Doch Bronwen Silvae, mit ihren tiefschwarzen Haaren, den grauen Augen und einer unverständlichen Lebensphilosophie, lag tot in einer Kiste aus Holz und würde für immer unter der Erde begraben liegen. Bronwen Silvae hatte ihre Tochter Meria allein zurückgelassen. Nach dem Autounfall war sie drei Tage lang im Krankenhaus gelegen und hatte zumindest die Kraft gehabt sich von Meria zu verabschieden, wie auch einige Freunde aus ihrer Vergangenheit anzurufen, damit diese sich nach ihrem Tod um Meria kümmerten. Die Ebonys waren sofort in die Kleinstadt gekommen, hatten jedoch keine Gelegenheit mehr erhalten, sich von Bronwen persönlich zu verabschieden.
Schweigend trat Meria an das frisch geschaufelte Grab ihrer Mutter und blickte hinunter. Der Sarg lag am Boden, steif und unbeweglich, mit den Intarsien einer Rose und eines Sichelmondes versehen. Seltsam angeordnete Striche umrundeten die Blume und den Mond.
Langsam öffnete Meria ihre Hand. Eine weiße Rose fiel in die Tiefe und landete auf dem Sarg. Tränen traten in ihre grauen Augen und Meria machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie ließ den Tränen freien Lauf. Eine Hand Erde folgte der weißen Rose.
Meria trat zurück, so dass auch die anderen eine Blume und eine Handvoll Erde hinunterwerfen konnten. Sie wandte den Blick ab. Wollte nicht sehen, wie einer nach dem anderen sich von Bronwen verabschiedete und schließlich zurücktrat, mit Tränen in den Augen. All diese Fremden, die Freunde ihrer Mutter gewesen waren, weinten leise.
„Meria.“
Sie hob den Kopf und sah Julia Ebony vor sich, eine braunhaarige Frau, die die Beerdigung organisiert hatte. „Es tut mir so leid“, flüsterte Julia. „Ich kann nichts tun, außer dir ein neues Zuhause bei uns anzubieten, aber ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird. Du bist in einer Stadt aufgewachsen und wir leben auf dem Land. Das nächste Dorf ist eine Viertelstunde mit dem Bus entfernt.“
Meria schüttelte den Kopf. Tränen glänzten in ihren Augen. Sie wollte nicht irgendwo hinziehen, sie wollte ihre Mutter zurückhaben! Aber das Leben ging weiter. „Ich würde gerne mit euch leben“, brachte Meria hervor. „Das ist sehr freundlich von dir.“ Wieder flossen die Tränen über ihr Gesicht.
Julia umarmte sie schweigend. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Meria zu Mute sein musste. Sie war gerade einmal dreizehn und hatte ihre Mutter wegen eines überheblichen Autofahrers verloren, dem es egal war, ob die Ampel rot oder grün war. Zwar war dem Fahrer eine hohe Geldsumme aufgebrummt worden, doch auf den Gedanken, sich zu entschuldigen, war er nicht gekommen. Ihren Vater hatte Meria nie gekannt und auch sonst hatte sie keine Verwandten mehr, außer… Aber Julia wollte diesen Gedanken nicht zu Ende führen. Sie dachte an die Worte, die Bronwen, völlig entkräftet, am Telefon geflüsterte hatte: „Sie weiß nichts, Julia, nichts. Und ich weiß nicht, wie ich es ihr jetzt noch beibringen könnte. Oder ob ich die Zeit habe.“ Es hätte nichts genützt, Bronwen einzureden, dass sie leben würde. Bronwen spürte den Schatten den der Tod warf. Sie hatte den Ruf der Todesgöttin gehört.
Meria schniefte und befreite sich aus Julias Umarmung. Erst jetzt trat Albert, Julias Mann, heran, begrüßte Meria und drückte sein Beileid aus. Er war hochgewachsen und braungebräunt, mit einem kräftigen Händedruck und freundlichen, hellblauen Augen. Seine drei Kinder – Jael, Mara und Merle – traten ebenfalls heran.
Jael schien nur ein wenig älter als Meria zu sein. Er hatte kurzgeschnittene, blonde Haare und wrang sich ein Lächeln ab, als er Meria begrüßte. Mara hingegen freute sich wirklich, Meria kennen zu lernen. Ihr glattes, braunes Haar hing ihr offen über die Schulter. Eine silberne Kette lag um ihren Hals, dessen Anhänger aus einem Vollmond und zwei Mondsicheln bestand. Mara war vielleicht ein Jahr jünger als Meria. Merle, die jüngste der drei, war sechs und würde nach den Sommerferien mit der Schule beginnen.
Ein Mann – der siebte Beerdigungsgast – trat langsam heran. Er nickte den Ebonys zu. Julia ergriff das Wort. „Meria, das ist Kane Bruns. Er lebt bei uns auf dem Hof und hilft uns mit den Pferden.“
Kane Bruns hatte kurzgeschnittene, sandfarbene Haare. Seine braunen Augen blickten traurig auf Meria hinab. Wie auch alle anderen war er ganz in Schwarz gekleidet, doch es wirkte irgendwie unpassend. Kane hielt ihr die Hand hin und Meria ergriff sie.
„Ich kannte Bronwen als wir noch jünger waren“, sagte Kane unvermittelt. „Meria…“ Er sprach ihren Namen aus, als wäre sie etwas Kostbares, das es zu beschützen galt. „Ich… Wenn du jemals Hilfe brauchst, kannst du auf mich zählen!“
Meria versuchte zu lächeln. Es misslang ihr kläglich. „Danke…“, murmelte sie verlegen.
Kane nickte leicht.
Zusammen mit dem Pfarrer gesellte sich nun der letzte Beerdigungsgast zu der kleinen Gruppe. Ann Müller war eine mittelalte Dame, durch deren Haare sich bereits graue Strähnen zogen. Das Jugendamt hatte sie geschickt, um aufzupassen, dass Meria ein gutes Zuhause bekam. Sie und Julia Ebony hatten sich schon darüber unterhalten, und, soweit Meria sehen konnte, alles Wichtige geregelt.
Sowohl der Pfarrer als auch Frau Müller sprachen ihr Beileid aus, doch Meria hörte nicht mehr richtig zu. Kurz hatte sie geglaubt, eine Gestalt zu sehen, die sich angeschlichen hatte. Doch als sie ihre tränenverschmierten Augen über den Friedhof gleiten ließ, entdeckte sie nichts, dass in irgendeiner Weise ungewöhnlich war. Die Sonne strahlte herab und ließ sich keineswegs von der traurigen Stimmung beeinflussen. Die Grabsteine warfen lange Schatten; ein paar alte Leute pflanzten Blumen auf die Gräber ihrer Liebsten; eine graue Katze huschte zwischen den Steinen entlang. Meria wandte den Blick gen Himmel. Kein Vogel zog seine Kreise über diesem Ort der Toten.
Wieder meinte Meria, aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen, doch es war nur Jael, der sich umsah, beinahe so, als hätte er etwas bemerkt, das ihn beunruhigte.
Eine halbe Stunde später saßen die Ebonys, Kane, Meria und Frau Müller bei einem Italiener und unterhielten sich über dies und das. Meria stocherte lustlos in ihren Nudeln herum und horchte erst auf, als Kane mit ernster Miene von Bronwen erzählte. „Früher sind wir immer zusammen auf Erkundungszüge gegangen“, erzählte er leise. „Erst ihr Cousin und ich und dann kam schließlich Bronwen dazu.“ Er lächelte leicht.
„Bitte verzeihen Sie, wenn ich mich einmische, Herr Bruns“, unterbrach Frau Müller ihn. „Aber Sie haben gerade von Bronwens Cousin gesprochen. Sie müssen verstehen, wir haben vergeblich versucht, weitere Silvaes zu finden. Könnten sie vielleicht den Kontakt zu diesem Cousin herstellen? Immerhin wäre es angemessener, wenn Meria mit ihren Verwandten leben würde. Wie lautet der Name des Cousins?“
Kane schien kurz zu zögern und verzog das Gesicht. „Leif Silvae“, enthüllte er schließlich. „Aber ich kann keinen Kontakt herstellen. Er ist… tot. Krebs. Vor einigen Jahren.“
Julia legte ihr Besteck zur Seite. „Bronwens Familie war klein“, begann sie. „Kurz nachdem sie in die Stadt gezogen ist, ist A… Leif krank geworden und gestorben. Als wäre das nicht schon schlimm genug, sind ihre Familienmitglieder einer nach dem anderen erkrankt und… ebenfalls gestorben.“ Julia holte tief Luft und versuchte die Tatsache zu überspielen, dass sie gerade das Blaue vom Himmel runter log. „Es tut mir Leid, Frau Müller, aber Meria hat keine Verwandtschaft mehr.“
„Und was ist mit ihrem Vater?“, fragte Frau Müller hartnäckig. „Frau Silvae hat bei der Geburt weder den Namen des Vaters erwähnt, noch sonst etwas über ihn. Da Sie Bronwen gut kannten, hatte ich gehofft, Sie könnten uns in diesem Fall weiterhelfen.“
Julia, Albert und Kane wechselten einen Blick. Albert räusperte sich. „Bronwen hatte so ihre Geheimnisse“, meinte er leichthin. „Sie hat uns nie verraten, wer der Vater ihres Kindes ist.“
Wir wussten es auch so, fügte Julia in Gedanken hinzu.
Frau Müller nickte langsam. Es war schwer, dies einzugestehen, doch es schien, als habe Meria tatsächlich keine Verwandtschaft mehr.
Meria schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich muss mal“, brachte sie hervor, als sie die fragenden Blicke bemerkte und floh aus dem Raum.
Sie hastete den Flur entlang, an den Toiletten vorbei, zu der großen Tür, die nach draußen führte. Langsam drückte Meria sie auf und schlüpfte hinaus.
Kalte Nachtluft schlug ihr entgegen. Die Sommerschwüle war verflogen. Leise versuchte Meria die Tränen aufzuhalten, doch sie rannen unaufhaltsam ihre Wangen hinunter. Die Sommerferien hatten vor fünf Tagen begonnen. Am ersten wurde ihre Mutter angefahren, am dritten war sie gestorben und am fünften hatte man sie beerdigt. Morgen würde sie zusammen mit Julia ihre Sachen packen und gegen Abend zu ihrem Hof fahren, wo sie von nun an leben sollte. Sie würde nie mehr in die Kleinstadt zurückkehren, außer um Bronwens Grab zu besuchen. Meria konnte sich nicht vorstellen, dass all dies geschehen konnte, geschehen war. Alles fühlte sich an wie ein surrealer Traum, aus dem sie jede Sekunde erwachen konnte.
Der Wind strich durch ihre Haare, als würde er sie beschützen. Bronwen, oh Bronwen, dachte sie, wieso musstest du sterben? Wieso musstest du mich verlassen, Mutter? Meria hatte Bronwen nie Mama genannt. Immer nur Bronwen und selten Mutter.
Meria blickte sich um. Eine Hecke verdeckte ihr die Sicht auf den Friedhof, der direkt nebenan lag. Kurz streifte ihr Blick das große Fenster, durch das sie die Ebonys, Kane und Frau Müller sehen konnte. Niemand beachtete Meria. Kurz hatte sie zwar das Gefühl, Jaels Blick würde zum Fenster schweifen, aber im nächsten Moment blickte er wieder starr auf seinen Teller hinab. Sie hatte sich wohl getäuscht.
Ohne sich erneut umzublicken eilte Meria zu der Hecke, die den Friedhof umgab, und schlüpfte hinein. Der wohlige Geruch von Erde umfing sie. Blätter raschelten, während sie sich zwischen den Zweigen vorwärts bewegte. Zwei Äste bogen sich zur Seite und boten freien Blick auf alte Grabsteine. Meria schluckte. Langsam trat sie zwischen den Ästen hervor und blieb stehen. Die Dunkelheit umschloss sie, nahm ihr den Atem und ließ Tränen in ihre Augen treten. Lautlos schritt Meria auf die Grabsteine zu, bewegte sich an ihnen vorbei und ließ sich von der Nacht trösten.
Bronwens Grab war zugeschüttet worden. Ein leiser Windhauch strich um den neu errichteten Grabstein. Bronwens Name, wie auch ihr Geburts- und Todesdatum prangten in silberner Schrift auf grauem Stein. Das Zeichen, das Bronwens Sarg geziert hatte – die Rose, der Sichelmond und das Strichmuster – waren auch hier zu finden. Vorsichtig trat Meria heran und strich mit ihren Fingern über das Muster. Bronwen selbst hatte dieses Zeichen einmal aufgemalt, als es ihr sehr schlecht gegangen war. Lange Zeit hatte sie den Fetzen Papier beobachtet, als wäre er ein Verbindungsstück zu Verlorenem, und ihn schließlich entzweigerissen und die Teile liegen lassen. Auf Merias Frage, was das Zeichen bedeutete, hatte Bronwen ausweichend geantwortet: Es sei nicht wichtig, hatte sie gesagt, die Vergangenheit sei die Vergangenheit und man konnte sie nicht mit einem Zeichen zurückholen. Meria hatte Bronwen nicht weiter bedrängt und das Zeichen vergessen. Doch heute war es wieder aufgetaucht. Erst auf dem Sarg, dann auf dem Grabstein. Julia Ebony musste es gekannt haben – sie hatte alles organisiert.
Plötzlich fiel Licht auf Meria und den Grabstein. Erschrocken hob sie den Kopf und musste die Augen zusammenkneifen. Der Strahl einer Taschenlampe blendete sie. Langsam senkte sich der Strahl und beleuchtete nun die Erde zu ihren Füßen.
„Ich habe mir gedacht, dass du hier bist“, sagte eine leise Stimme, die Meria als die Jael Ebonys erkannte.
„Ich wollte noch mal zu Bronwen.“ Merias Stimme klang rau in der Nacht. „War ich… war ich so lange weg, dass man schon nach mir sucht?“
Jael schüttelte den Kopf. „Ich habe gesehen, wie du raus gegangen bist und dachte, ich sollte mal nach dem Rechten sehen“, erklärte er.
Er richtete die Taschenlampe auf den Grabstein. „Das ist ein schönes Zeichen“, meinte er. „Bedeutet es etwas?“
Meria schüttelte stumm den Kopf. Sie wollte nicht mit dem eigentlich völlig fremden Jael darüber reden. „Gehen wir zurück?“, fragte sie und blickte sich unbehaglich um. Durch Jaels Taschenlampe schien alles andere viel dunkler zu werden, als es zuvor gewesen war.
Jael nickte leicht und wandte den Strahl seiner Lampe auf den Weg. Zusammen verließen sie den Friedhof durch ein kleines Tor und nicht durch die Büsche, wie Meria gekommen war. Schweigend liefen sie über den Asphalt, zurück zum Restaurant.
Jael schaltete seine Taschenlampe aus und öffnete die Tür. Meria warf noch einen Blick hinter sich, wo hinter Büschen und Hecken Bronwens letzte Ruhestätte lag. Ihr Blick wanderte zum Fenster, wo die Ebonys saßen und sich lachend unterhielten. Sie wollte gerade das Restaurant betreten, als sie stockte. In der Nähe des Fensters stand jemand. Es war ein junger Mann, dessen schwarzer Mantel fast seine ganze Gestalt verbarg. Obwohl Meria sein Gesicht nicht genau erkennen konnte, sah sie die grimmige Miene, mit der er die Menschen im Restaurant beobachtete. Insbesondere die Ebonys und Kane. Seine Augen blitzten in der Dunkelheit.
„Kommst du, Meria?“, hörte sie Jaels Ruf.
„Ja“, murmelte sie und betrat abwesend das Restaurant des Italieners.
In diesem Moment wanderte der Blick des jungen Mannes und erfasste Meria. Sie blieb stehen und starrte zurück. Erstaunen lag in seinem Blick. Meria schluckte. Der Mann wandte sich wieder von ihr ab und blickte erneut aufs Fenster. Hinter ihr fiel die Tür zu.
Wärme schlug ihr ins Gesicht. Wärme, Lachen und der Geruch von frischgebackener Pizza und zu viel Mehl. Meria atmete tief durch, und versuchte die hasserfüllten Augen des Mannes zu vergessen.