In einem kleinen Dorf fernab jeglicher Zivilisation, wo die Kleider noch von Hand genäht und die Wolle noch von Hand gesponnen wurde, lebten zwei Mädchen, die sich schon in Kindertagen näher gewesen waren als Schwestern.
Ást hieß die eine und sie war strahlend hell wie der Tag, mit Haar aus gesponnenem Gold und Augen wie das Sonnenlicht, das durch die Blätter fällt.
Bjòda hieß die andere. Diese war blass wie der Mond, mit Haar wie Kohle und Augen wie die sternenlose Nacht.
Im Frühling flochten sie die frischen Blüten zu Kränzen, im Sommer badeten sie gemeinsam im Fluss, im Herbst tanzten sie zwischen fallenden Blättern und im Winter wanderten sie durch Felder aus Eis und Schnee. Die Jahre vergingen und die Zeit kam, zu der beide heiraten sollten. Doch noch bevor Ehemänner ausgewählt werden konnten, wurde Ást schwer krank und musste sich in ihrer Kammer niederlegen. Die Tage vergingen und Ást ging es immer schlimmer. Es war im tiefsten Winter, am Tag der Wintersonnenwende, draußen glitzerte das Eis an den Zweigen, als sie dem Sterben so nah war, dass ihre Verwandten sich aus der Kammer zurückzogen und sie dem Tod überließen. Als Bjòda davon erfuhr, erfasste sie Grauen wie eine eiserne Hand und sie rannte durch den aufkommenden Schneesturm zu Ásts Hütte. Da man sie nicht in das Zimmer hineinlassen wollte, kletterte sie durch das Fenster und setzte sich ans Sterbebett und begann zu spinnen. Immer wieder stach sie sich dabei in den Finger und ihr Blut mischte sich mit dem Faden.
Ást war blass geworden, ihr Haar ähnelte eher Stroh als Goldfäden und ihre Augen glitzerten fiebrig. Und doch, mit jedem Tropfen Blut, der sich mit der Wolle mischte, atmete sie ruhiger und tiefer.
Draußen wütete ein Sturm, wie man ihn selten sah. Schneewehen peitschten durch die Luft, die Küchenfeuer erstarben und die Jagdhunde versteckten sich winselnd in dunklen Ecken. Der Tod jagte durch die Nacht und wie er seinen jungen Rappen antrieb, spürte er den Herzschlag eines Körpers, der kurz vorm Aufgeben war. So kam er in Ásts Kammer und erblickte Bjòda, die mit Blut versuchte, ihre Freundin zu heilen.
Als diese ihn erblickte, zitterte ihre Hand, der Faden riss und die Spindel fiel zu Boden. Trotzdem stellte sie sich dem Tod entgegen, betrachtete seine dunkle Gestalt und blickte in die grauen Tiefen seiner Augen. „Ich werde sie nicht gehen lassen“, sprach Bjòda mit fester Stimme. Ein Windstoß fuhr durchs Zimmer, warf sie zu Boden und öffnete ihr kohlenschwarzes Haar.
Der Tod schüttelte nur den Kopf. Er war es gewohnt, dass Menschen um die Leben ihrer Liebsten bettelten. Sie baten, drohten, bestachen und doch brachte es ihnen nichts. Der Tod trat ans Sterbebett. „Wie ist dein Name, Jungfer?“, flüsterte er, doch der Wind trug Bjòda seine Stimme zu und sie erkannte, dass der Tod Ást nicht zu sich rufen konnte, solange er ihren Namen nicht besaß. Ást selbst war zu krank, um selbst dem Tod zu antworten, so sprach Bjòda an ihrer Stelle.
„Ihr Name ist Iskra.“
„Du lügst“, entgegnete der Tod ruhig. „Nenne mir ihren wahren Namen.“
„Ihr Name ist Ada“, sagte Bjòda daraufhin, doch der Tod schüttelte nur den Kopf.
Langsam trat er näher. „Hör mir zu, Kind“, sprach er mit sanfter Grausamkeit. „Ich werde deine Freundin von ihren Schmerzen erlösen, wenn du mir nur den Namen nennst. Solltest du mich noch einmal belügen, werde ich mit solcher Wucht über dein Dorf ziehen, dass die Ernte stirbt und die Häuser zusammenfallen. Also?“
Bjòda blickte zu Boden. Getrocknete Binsen verteilten sich auf den Holzbrettern. „Ihr werdet nur eine Seele mit Euch fortnehmen?“, flüsterte sie, ihre Stimme wie Espenlaub im Wind. Oder wie ein Mondstrahl in tiefster Nacht.
„So ist es“, versprach der Tod. „Nenn mir den Namen.“ Wie ist dein Name, Jungfer? hatte er der Sterbenden zugeflüstert.
„Bjòda“, rückte das Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar endlich mit der Sprache heraus. Und der Tod erkannte das Opfer, das sie bereit war, für die Sterbende zu geben. Es rührte ihn.
„Bjòda!“, sprach er und hob die Hand.
Etwas zog tief in Bjòdas Brust, stechend scharf wie ein Messer. Sie ergriff die Hand des Todes und ihr Körper fiel leblos zu Boden. Ihre Seele hingegen ging mit ihm und wurde zu einer Jägerin an seiner Seite.
Als man am nächsten Morgen ihre Leiche fand, ging ein Raunen durchs Dorf. Und als Ást wieder gesund wurde, flüsterten die Leute, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. Sie ahnten, dass Bjòda an Ásts Stelle mit dem Tod gegangen war und scheuten sich, dem einst so kranken Mädchen in die Augen zu blicken.
Doch Ást konnte nicht mit Bjòdas Opfer leben. Früher hatten sie zusammen in den seichen Stellen des Flusses gebadet. Schwamm man zu weit hinaus bestand die Gefahr, von einem Strudel in die Tiefe gerissen zu werden.
Zwölf Nächte nach Bjòdas Dahinscheiden spülte der Fluss Ást ans Ufer. Ihr Gesicht war blau vor Kälte, durch das goldene Haar zog sich Eis und auf ihren Lippen lagen die Reste ihres Namens, den sie mit letzter Kraft dem Tod zugeflüstert hatte.
Doch Ást stieg nicht in die Unterwelt hinab. Sie schloss sich Bjòda und dem Tod an und jagte bis zum Ende aller Zeiten durch die Lande. So blieben die Mädchen, die wie Sonne und Mond waren, in der wilden Jagd des Todes vereint.