Dass Andrzej Sapkowski sich in seinen Büchern über den Hexer Geralt von Rivia von existierenden Mythologien und Religionen inspirieren lässt, sollte auch den etwas unaufmerksameren Lesern aufgefallen sein – vorausgesetzt sie kennen sich mit Mythologie aus.

So werden am Anfang des Schwalbenturms die acht elfischen Feste genannt (Imbolc, Beltane, Lughnasadh, Samhain, die Sonnenwenden und die Tagundnachtgleichen), die charakteristisch für Strömungen des Heidentums und den keltischen Jahreskreis sind. Zudem begegnen wir Druiden und den Priesterinnen der Göttin Freyja, sowie Freyjas Halsschmuck Brisingamen.

Genau diesen Halsschmuck benötigt die Zauberin Yennefer von Vengerberg im Buch Der Schwalbenturm, um Ciri zu finden. Doch eine Priesterin Freyjas erklärt ihr, dass der Juwel nicht entfernt werden kann, lädt Yennefer jedoch ein, an ihrem Gebet teilzunehmen. Die Zauberin nimmt das Angebot an, langweilt sich schrecklich und schläft ein. Dabei tritt sie in eine Trance über und spricht mit der Göttin, an die sie eigentlich nicht glaubt.

Freyja ist eine nordische Göttin vom Geschlecht der Wanen. Sie ist sowohl eine Fruchtbarkeitsgottheit, als auch eine des Krieges und des Todes, da die Hälfte der im Krieg gefallenen ihr gehören. In ihren vielen Liebschaften ähnelt sie Yennefer – so hat Freyja für den Juwel Brisingamen bezahlt, indem sie je eine Nacht mit den Schmieden verbrachte. Interessant sind noch die Tiere, die mit ihr in Verbindung gebracht werden: Katzen, die ihren Wagen ziehen, und Falken, deren Gestalt sie annehmen kann. Nur so am Rande: Könnten Katzen etwas mit Löwen und Falken etwas mit Falka zu tun haben?

Während Yennerfers Trance spricht die Göttin folgende Worte*: „Hörst du? Der Hahn Kambi krählt. Wellen brechen gegen die Ufer, Wellen, die von Naglfars Bug geschoben werden. Das Horn Hemdalls erklingt, während er auf der regenbogenfarbenen Brücke Bifrosts seinen Feinden gegenübersteht. Der Weiße Frost ist nah, ein Sturmwind und ein Schneesturm sind nah… Die Erde erschüttert unter den windenden Bewegungen der Schlange…
Der Wolf verschlingt die Sonne. Der Mond wird schwarz. Es gibt nur Kälte und Dunkelheit. Hass, Rache und Blut…
Auf welcher Seite wirst du stehen, Yennefer? Wirst du auf der östlichen oder der westlichen Seite Bifrosts stehen? Wirst du mit Hemdall stehen oder gegen ihn?
Der Hahn Kambi kräht.“
Der Schwalbenturm, Sapkowski

Diese Worte tragen eine gewisse Ähnlichkeit zu einem Teil der Aen Ithlinnespeath, einer elfischen Prophezeiung über das Ende der Welt**: „Wahrlich sage ich euch, es wird kommen eine Schwertzeit, eine Beilzeit, eine Zeit der Wolfsstürme. Es wird kommen die Zeit der Weißen Kälte und des Weißen Lichts, die Zeit des Wahnsinns und die Zeit der Verachtung, Tedd Deireádh, die Zeit des Endes. Die Welt wird in Frost ersterben, und wird mitsamt einer neuen Sonne wiedergeboren werden. Aus dem Älteren Blute heraus wird sie wiedergeboren, aus dem Hen Ichaer, dem ausgesäten Samenkorn, das nicht keimen wird, sondern in Flammen ausbrechen.
Ess’tuath! So wird es sein! Haltet Ausschau nach den Zeichen. Welche Zeichen das sein werden, will ich euch künden – zuvörderst wird das Blut der Aén Seidhe die Erde tränken, das Elfenblut.“
Das Erbe der Elfen, Sapkowski

Wölfe, Stürme, Blut und Kälte. Klingt doch wunderbar, das Ende der Welt. Doch Sapkowski hat dieses scheinbare Weltende nicht aus dem Nichts gezogen – seine Wurzel reichen bis zu den Wikingern und weiter zurück. Bis zu Ragnarök, dem Schicksal der Götter.

Früher fälschlich als Götterdämmerung übersetzt, berichtet uns die nordische Mythe des Ragnaröks, wie die Welt stirbt, um erneut zu erwachen. Ein Endkampf zwischen den Riesen und Göttern. Eine kurze Zusammenfassung: Krieg, Winter, letzte Schlacht, ein Gott nach dem anderen fällt, großes Feuer, Neuanfang. Eine längere Zusammenfassung ergibt sich auf dem Text.

„Der Hahn Kambi kräht.“ Während Yennefers Trance taucht dieser Satz wieder und wieder auf. Normal symbolisiert ein Hahnenschrei, dass ein neuer Tag beginnt, ein neues Leben. In diesem Fall ist der Hahnenschrei der Anfang des Endes. Ähnliches kann man auch in der Edda, einer mittelalterlichen Aufschrift nordischer Mythologie, lesen:
„Vor ihm sang im Vogelwalde
Der hochrote Hahn, geheißen Fialar.
[…]
Unter der Erde singt ein andrer,
Der schwarzrote Hahn in den Sälen Hels.“
Wöluspa, Edda

Bei Naglfar handelt es sich um ein Schiff aus den Finger- und Zehennägeln der Toten, das der Gott Loki (ein Antiheld der nordischen Mythen, wird heute oft als Betrüger bezeichnet) steuert. In ihm befinden sich die Toten, die bisher bei seiner Tochter Hel in Gewahrsam waren. Nun nutzt Loki sie als Heer.

Als nächstes spricht die Göttin Freyja von Hemdall, der wohl dem nordischen Gott Heimdall entspricht. Seine Aufgabe ist es, zu Beginn des Ragnaröks in sein Horn Giallarhorn zu blassen, um die Götter zur letzten Schlacht zu rufen. In der Edda gibt es folgende Verse zu dieser Tat:
„Beim gellenden Ruf des Giallarhorns,
Ins erhobene Horn, bläst Heimdall laut.“
Wöluspa, Edda
Ach ja, und Bifrost ist die Regenbogenbrücke, die zwischen den neun Welten der nordischen Mythologie hin und her führt.

„Der Weiße Frost ist nah, ein Sturmwind und ein Schneesturm sind nah…“ Diese Worte stimmen mit Teilen der Aen Ithlinnespeath überein: „[…]eine Zeit der Wolfsstürme. Es wird kommen die Zeit der Weißen Kälte und des Weißen Lichts, die Zeit des Wahnsinns und die Zeit der Verachtung[…]“
Auch die nordische Mythologie verschont uns nicht mit schlechten Zeiten: So kommen erst drei Jahre Krieg und dann eine drei Winter lange Zeit der Kälte und des Eises, genannt Fimbulwinter. Wer den Krieg überlebt hat, kommt dann spätestens in den Schneewehen um (sollte man das überleben, kann man immer noch in der kommenden Feuersbrunst sterben).
„Brüder befehden sich und fällen einander,
Geschwister sieht man die Sippe brechen.
Der Grund erdröhnt, üble Diesen fliegen;
Der eine schont des anderen nicht mehr.

Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch.
Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen,
Windzeit, Wolfszeit eh die Welt zerstürzt.“
Wöluspa, Edda

Die Aen Ithlinnespeath spricht ebenfalls von einer „Schwertzeit“ und einer „Beilzeit“, also einer Zeit des Krieges. Von Krieg sehen der Hexer und seine Gefährten wahrlich genug. Darauf folgt die „Windzeit, Wolfszeit“, die auch in der Gylfginning der Edda Erwähnung findet: „Dass ein Winter kommen wird, Fimbulwinter genannt. Da stöbert Schnee von allen Seiten, da ist der Frost groß und sind die Winde scharf, und die Sonne hat ihre Kraft verloren.“
Die „Wolfstürme“ in Ithlinnes Prophezeiung könnten auf Geralt als den weißen Wolf hinweisen, oder aber eine Parallele zur nordischen Mythologie bilden, wo Sonne und Mond von zwei hungrigen Wölfen verschlungen werden. (Oder es geht einfach darum, dass Wolfrudel wie Stürme über die Menschen herfallen werden. Oder Stürme wie Wolfsrudel.)
„Der Wolf verschlingt die Sonne. Der Mond wird schwarz“, spricht die Göttin zu Yennefer. Doch Ithlinne hat noch etwas hinzuzufügen: „Die Welt wird in Frost ersterben, und wird mitsamt einer neuen Sonne wiedergeboren werden.“ Und die Idee der neuen Sonne – des neuen Tages, den der Hahnenschrei verkündet, der neuen Welt – findet auch in der Edda anklang:
„Eine Tochter entstammt der strahlenden Göttin [der Sonne]
Eh der Wolf sie würgt:
Glänzend fährt nach der Götter Fall
Die Maid auf den Wegen der Mutter.“
Vafthrudnismal, Edda

Zuletzt wäre noch dieser Satz anzusprechen: „Die Erde erschüttert unter den windenden Bewegungen der Schlange…“ Ragnarök ist eine Zeit, in der die Ketten brechen. Loki befreit sich aus seiner Höhle, der Fenriswolf reißt sich los und auch die Midgardschlange, die die ganze Welt umschließt, kommt aus dem Meer hervor, um gegen die Himmelsgötter in Asgard anzutreten.

Was ich in der Edda, oder generell in der nordischen Mythologie, noch nicht gefunden habe, ist das Hen Ichaer oder generell eine Figur der Cirilla Fiona Elen Riannon. Obwohl man argumentieren könnte, dass Loki die Rolle als Zerstörer der Welten einnimmt, da er Ragnarök anzettelt. Oder ist es eher seine Tochter Hel – immerhin kämpfen ihre Toten gegen die Götter? Auch Hel wird manchmal als Anführerin der Wilden Jagd genannt, was ja auch zu Ciri passen würde. „Du bist unser, sternäugige Chaostochter!“***

In Ragnarök selbst treten die Götter zur letzten Schlacht an, indem die Berühmtesten unter ihnen sterben: Odin, Thor, Frey, Tyr, Heimdall, Loki… Interessanterweise scheinen selbst die Kriegsgöttinnen nicht an dieser Schlacht teilzunehmen. Und auch von der Todesgöttin Hel erfährt man nichts mehr. Auf jeden Fall bricht ein Feuer aus, das fast alles zerstört, bis auf einige wenige Götter wie Baldur und Thors Söhne, sowie zwei Menschen, die sich im Weltenbaum versteckt haben und die Erde neu bevölkern werden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Sapkowski sich wohl sehr von nordischen Mythen über den Weltuntergang hat inspirieren lassen. Das ist nichts Schlechtes – im Gegenteil: Es macht die Geschichte umso vielfältiger und gibt ihnen einen Bezug zu unserer Welt und unseren Leben.

Zum Schluss sollte vielleicht noch etwas gesagt sein: Ragnarök wird oft als Weltende dargestellt, dabei sollte man es eher als Neuanfang betrachten. Die Welt wird in Feuer und Eis vergehen und mit dem Aufgehen einer neuen, jungen Sonne eine weitere Chance bekommen. Die Schlange beißt sich selbst in den Schwanz. Der Tod ist allgegenwärtig und kann doch nicht siegen. Ein Ende ist immer ein Anfang.

*Da ich die deutsche Ausgabe des Buches nicht besitze, habe ich diesen Ausschnitt aus der englischen Variante übersetzt. Die Worte sind nicht unbedingt dieselben, die in der deutschen Übersetzung genutzt werden, haben jedoch dieselbe Bedeutung.

**Diesmal nicht selbst übersetzt.

***Zeit der Verachtung, Sapkowski, von Ciris Begegnung mit der Wilden Jagd, erneut besitze ich das Buch nur auf Englisch und habe einfach den Satz übersetzt.

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